VON LIEBE, TOD UND ROTEM WEIN

Fragen an Regisseur Ulrich Peters von Thomas Schmidt-Ehrenberg

TSE: Herr Dr. Peters, Sie haben sich intensiv auch mit der Biographie Do­nizettis auseinandergesetzt und Verbindungspunkten zwischen Leben und Werk nachgespürt. Wo sehen Sie da Parallelen, was den „Liebestrank“ anbe­langt?
UP: Es tatsächlich sehr oft der Fall, dass man bei Donizetti Parallelen zwischen Werk und Leben finden kann. Beim „Liebestrank“ ist es das Ver­hältnis zu seiner Verlobten, seiner späteren Frau. Während Donizetti aus extrem einfachen Verhältnissen kam, stammte seine Verlobte aus einer sehr reichen Mailänder Anwaltsfamilie. Er fühlte sich da immer ein wenig als Underdog. Die Sehnsucht nach ihr war, bis er dann geheiratet hat, sehr groß - ein bisschen wie bei Nemorino in der Oper. Dann allerdings, nach­dem er verheiratet war, hat er immer wieder den Kitzel gesucht. Er hatte sehr viele außereheliche Affären, obwohl er sich zuvor so wahnsinnig nach dieser Ehe gesehnt hatte. Das ist sehr eigenartig. Bei Nemorino und Adina ist es ähnlich. Nemorino ist ein ganz einfacher Mensch in diesem Ort, Adina dagegen ist wohlhabend und gebildet. Ich könnte mir vorstel­len, dass diese Parallele Donizetti sehr zur Komposition inspiriert hat und er sich in dem, was Felice Romani ihm da geschrieben hatte, wiederer­kannt hat.
TSE: Ich weiß, dass Ihnen das Motiv der Todessehnsucht und der Todes­schwärmerei wichtig war bei der Konzeption ihrer Inszenierung: Ist es die­ses romantische Motiv, dieses existentielle Moment, das diese Oper zu einer romantischen Oper macht und sie damit deutlich von den italienischen Buffa-Opern des 18. Jahrhunderts unterscheidet?
UP: Ja, absolut. Dieses Motiv findet man in den Buffa-Opern überhaupt nicht. Und deshalb hat Donizetti sein Werk auch als Dramma giocoso bezeichnet. Die Wörter „Liebe“ und „Tod“ sind die am meisten benutz­ten Wörter in der Oper „Der Liebestrank“. Das ist wirklich auffällig: Es gibt kaum eine Seite in der Partitur, wo eines dieser beiden Wörter nicht vorkommt. Und damit sind wir auch schon beim zentralen Problem von Nemorino. Oscar Wilde hat einmal geschrieben: „Es gibt auf der Welt nur zwei Tragödien. Die eine ist, dass man nicht bekommt, was man sich am meisten wünscht, und die zweite, dass man es bekommt.“ Wenn die größte Sehnsucht erfüllt wird, was bleibt dann noch? Es bleibt ein Vaku­um zurück. Und bei Nemorino ist das auch so: Er sehnt sich so sehr nach dem Zusammenkommen mit Adina, dass er eigentlich nach der Erfüllung dieses Traumes gleich sterben könnte. Denn es gibt ja nichts Schöne­res mehr. Schon um diesen Moment zu erreichen, also Adina in seinen Armen zu halten, setzt er sein Leben ein. Nemorino verpflichtet sich als Soldat, um mit seinem Antrittssold eine zweite Flasche des „Liebestranks“ kaufen zu können. Damit will er Adinas Liebe erringen. Er ist also bereit zu sterben. Denn sich bei den Soldaten anheuern zu lassen, bedeutet für so einen Überhaupt-nicht-Soldaten wie Nemorino eigentlich Selbstmord. Den ersten leichtesten Scharmützel-Angriff würde er mit Sicherheit nicht überleben, aber er macht es, um diesen einen Glücksmoment mit Adina zu erreichen.
Der „Liebestrank“ ist eine witzige und sehr romantische Geschichte, aber auch eine Geschichte, die zeigt, dass es Menschen gibt, die sich von Mythen und Märchen leiten lassen. Das mag ich sehr an Nemorino: Während alle anderen darüber lachen, glaubt er wirklich an diese Ge­schichte des Liebestranks aus „Tristan und Isolde“. Das heißt, Literatur verändert sein Bewusstsein. Auch eine tolle Utopie...!
TSE: Noch einmal zurück zu diesem Todesmoment: Sie haben das ja schon relativ drastisch an den Anfang gesetzt, indem sie Nemorino während des Vorspiels einen Selbstmordversuch unternehmen lassen. Giannetta ist es dann, die Schlimmeres verhindert. Schon am Anfang tut sich damit also die existenzielle Dimension auf.
UP: Genau. Nemorino sagt das auch in seinem ersten Duett mit Adina: Er möchte lieber sterben, als auf Adina zu verzichten. Gleich in der ersten Szene wird mit diesem Thema umgegangen, deshalb war es für uns auch naheliegend, das schon in die Ouvertüre mit hineinzupacken. So sieht das Publikum gleich zu Beginn, an welchem Punkt dieser arme Nemorino mit seiner Liebe eigentlich steht.
TSE: Sie haben die Handlung, die eigentlich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einem Dorf im französischen Baskenland spielt, in ein ita­lienisches Dorf der 1950er Jahre verpflanzt. Ist es Ausdruck der Zeitlosig­keit dieses Stoffes, dass man das machen kann?
UP: Ja, das finde ich absolut. Der Stoff ist heute noch genauso gültig wie damals. Für die Idee, die Handlung in das Italien der Nachkriegszeit zu verlegen, stand ein wenig Fellinis Film „La strada“ von 1954 Pate. Die Figur des Zampano in „La strada“ ist so eine ähnliche Figur wie der Dulca­mara bei Donizetti. Beide fahren umher und verkaufen etwas: Zampano seine Muskelkraft, Dulcamara seine selbst gepanschten Tränke. Dieser Dulcamara erscheint eher als eine dem Mittelalter entsprungene Figur - eben wie eine Art Medikus, der Tränke verkauft hat aber auf dem Marktplatz auch den Leuten Zähne ausgerissen hat. Also im Grunde ist das eine Figur, die aus einer Zeit noch lange vor Donizetti kommt - weit vor dem 19. Jahrhundert. Auch darin liegt also eine gewisse Zeitlosigkeit. Und dann haben uns diese Schwarz-Weiß-Filme der 1950er und späten 1940er Jahre sehr inspiriert. Das ist genau die Atmosphäre, in der wir den Konflikt Adina-Nemorino sehen.
TSE: Diese Adina, die von zwei Männern umgarnt wird, ist kein ganz leicht zu greifender Charakter. Haben Sie eine Vorstellung von ihrer Vorgeschich­te? Was hat Adina so- werden lassen, wie sie sich zu Beginn der Oper prä­sentiert - etwas spröde und unnahbar?
UP: Ich habe Adina im Konzept ein gutes Stück Verantwortung gegeben: Sie ist die Chefin einer kleinen Nudel-Manufaktur. Ich denke, sie hat rela­tiv früh anfangen müssen, auf eigenen Beinen zu stehen, selbständig zu sein. Eventuell sind ihre Eltern früh gestorben. Aber gleichzeitig ist sie durchaus flatterhaft. Sie genießt das Leben, ist hedonistisch. Sie ist mit dem goldenen Löffel im Mund geboren worden und hat das immer aus­genutzt. Während alle anderen einen einfachen Landwein trinken, trinkt sie schic Campari. Sie hat eine Aura der Unberührbarkeit um sich herum, und gleichzeitig flirtet sie hemmungslos mit allen Männern. Das sagt sie auch im ersten Duett: Liebe bedeutet für sie, wie ein Schmetterling von Blümchen zu Blümchen zu fliegen. Sie steht also im größtmöglichen Kon­trast zu Nemorino, der sagt: Liebe ist etwas einmaliges, das man nur mit einem Menschen erleben kann. Adina ist die Figur in der Oper, die die größte und interessanteste Entwicklung durchmacht. Sie ist es gewöhnt, von Nemorino angehimmelt zu werden. In dem Moment aber, wo sie von Nemorino, der sie vorher nicht wirklich interessiert hat, vermeintlich ab­gelehnt wird, setzt bei ihr eine Wandlung ein. Es gibt eine Szene im zwei­ten Akt, wo sie deshalb wirklich am Boden zerstört ist. Plötzlich merkt sie, dass es etwas gibt, das ihr ganz wichtig ist und das ihr fehlt. Indem ihr Nemorino seine Aufmerksamkeit entzieht, bemerkt sie das Vakuum, in dem sie lebt. Sie erkennt, dass in ihrem Leben alles nur äußerlich ist, dass sie nur konsumiert: Es ist kein Sein bei ihr, sondern nur ein Haben.
TSE: Adinas Wandlung setzt also schon ein, bevor sie erfährt, dass sich Nemorino als Soldat verpflichtet hat, um noch eine zweite Flasche von dem Liebestrank bezahlen zu können?
UP: Ja, in dem Moment, wo Nemorino sie nicht mehr beachtet, stellt sie fest, dass ihr wirklich etwas fehlt. Das ist mehr als Beleidigtsein. Sie macht eine Wandlung durch, gewinnt dadurch eine sehr große emotiona­le Tiefe und gelangt so mit Nemorino auf eine Ebene. Nemorino dagegen macht keinerlei Wandlung durch: Der ist so, wie er ist. Und der Liebestrank, der ja eigentlich nur ein Bordeaux-Wein ist und natürlich bei einem notorischen Milch Trinker wie Nemorino schnell sei­ne berauschende Wirkung entfaltet, der verwandelt ihn ja nicht wirklich. Nemorino gewinnt durch ihn nur mehr Selbstbewusstsein. Man muss eben einfach daran glauben!
TSE: Die beiden Figuren Dulcamara und Belcore weisen sich noch am stärk­sten Reste der alten Buffa-Komik auf - einerseits was die (Über)Zeichnung ihrer Charaktere anbelangt, andererseits auch musikalisch. Wie ernst muss man die beiden trotzdem nehmen?
UP: Dulcamara ist natürlich im,Grunde zu bemitleiden. Der fährt von Ort zu Ort, um etwas zu verkaufen, das eigentlich gar keinen Wert hat. Er macht ein großes Brimborium darum, aber im Grunde genommen weiß er nie so ganz genau, wo er am nächsten Abend übernachten kann. Er ist ein Getriebener, ein Unbehauster in einer Landschaft, wo jeder sein Haus oder seine Wohnung hat, wo jeder im Trockenen sitzt. Auf der anderen Seite ist er aber auch wieder so großspurig im Auftreten, dass es dann sehr komisch wirkt: Es ist nichts dahinter. Ähnlich ist bei Belcore. Er ist ein aufgeblasener Soldat von einer unend­lichen Arroganz, und am Ende geht er leer aus. Das hat schon etwas sehr Buffoneskes. Auf der anderen Seite ist er auch ein brutaler Kerl. Er will Adina heiraten und singt auf der eigenen Hochzeitsparty davon, wie schön es ist, wenn man als Soldat viele Frauen haben kann. Er macht sich - besoffen wie er ist - gar nicht bewusst, was er da eigentlich singt! Außerdem ist ihm ja auch jeder fiese Trick recht, um Adina herumzukrie­gen. Damit sie ihn schnell heiratet, behauptet er, er müsse nach einem Tag schon wieder abreisen. Und der Notar, der dann die Hochzeit vollziehen soll, ist in Wahrheit einer von Belcores verkleideten Soldaten. So wie er immer versucht, die Frauen hereinzulegen, versucht er auch Adina herein­zulegen. Doch bei ihr funktioniert es am Ende nicht: Am Schluss ist Bel­core der betrogene Betrüger. Und das hat dann - neben der Grausamkeit und Brutalität dieser Figur - natürlich auch eine sehr komische Seite.
TSE: Für die Nebenfigur Giannetta haben Sie sich in ihrer Inszenierung et­was Besonderes ausgedacht. In welchem Verhältnis steht sie zu Nemorino?
UP: Giannetta ist für mich eine ganz wichtige Figur, denn sie spiegelt den Konflikt von Nemorino - jedoch auf einer nicht ganz so romantischen Ebene. Sie liebt Nemorino, und Nemorino liebt Adina. Giannetta versucht immer, Nemorino von Adina wegzubringen. Sie sagt: Die ist doch gar nichts für dich, die steht gesellschaftlich viel zu hoch, das kann ja gar nicht funktionieren. Nemorino gibt aber seine Liebe zu Adina nicht auf. Je mehr Giannetta versucht, Nemorino von Adina wegzuziehen, desto stärker wird im Grunde genommen dessen Liebe zu Adina. Am Schluss steht die arme Giannetta - nachdem sie Nemorino nicht bekommen hat, weil sich Adina dann doch für ihn entschieden hat - vor der Frage nach Leben oder Sterben: Selbstmord oder nicht?

Die Fragen stellte Thomas Schmidt-Ehrenberg.